Wie wunderbar, dass der „Matador“ so schnell in die Arena zurückkehrt! Schließlich hatte sich Garland Jeffreys, eine der New Yorker Musikerlegenden par excellence, weit mehr als ein Dutzend Jahre lang Zeit gelassen, bevor er im Jahr 2011 wie aus dem Nichts ein neues Studioalbum veröffentlichte. Und was für eins! „The King of In Between“ versetzte Heerscharen von Kritikern in Verzückung. Mit einem derartigen Comeback, einer derartigen Wiederauferstehung hatte kaum jemand gerechnet. Das war zweifellos das vorläufige Highlight einer bemerkenswerten Musikerkarriere, die nunmehr schon 50 Jahre währt. Mit seinem neuen Album „Truth Serum“ demonstriert Garland Jeffreys, dass er offensichtlich eine seiner wohl fruchtbarsten Schaffensperioden erlebt, einen regelrechten zweiten kreativen Frühling. „Truth Serum“ ist neuerlich eine Herzensangelegenheit, bei der sich der Altmeister kämpferisch wie eh und je zeigt. Wieder überschreitet er souverän Genregrenzen und erschafft – der urban poet in seinem ureigensten Element – ein weises, aber auf die nötigsten Zutaten reduziertes Klanggedicht. Ein Vollblutkünstler, der sich seinen festen Platz im Rock-Olymp wohlverdient hat.
Bereits mit „The King of In Between“ hatte Jeffreys gleich mehrere Fan- und Kritikergenerationen rundum überzeugt. Das National Public Radio (NPR) pries das Werk als „eine so gute klassische Roots-Rock-Aufnahme wie man sie von kaum einem anderen hören wird“. Das Album – veredelt von einem Gastauftritt seines alten Freundes Lou Reed – erhielt glänzende Kritiken vom renommierten Magazin The New Yorker bis zur Tageszeitung USA Today. Nicht minder überschwänglich waren die Reaktionen, als das Album im letzten Jahr in Deutschland erschien: „Abgeklärt, relaxt, energisch und beseelt“ befand laut.de, und der Rolling Stone urteilte schlicht und einfach: „grandios“. „The King of In Between“ brachte Jeffreys zudem einen Auftritt bei Letterman ein, sowie gemeinsame Konzerte mit Bruce Springsteen und Levon Helm. All diese Erfahrungen haben den Musiker, der vor kurzem seinen 70. Geburtstag feierte, offensichtlich noch angespornt, was man auf „Truth Serum“ in jedem Moment spüren kann.
„Dieses Album ist eine Art Rorschach-Test, die reine Essenz dessen, wo ich heute mit siebzig Jahren stehe“, erklärt Garland Jeffreys. Sein Gesang ist so entspannt und zugleich souverän wie wohl noch nie in seiner Karriere, die Songtexte stecken voller Lebenserfahrung, wobei Jeffreys jeder bitteren Einsicht seinen eisernen Optimismus entgegenstellt, während er aus Blues, Rock, Reggae und Folk ein entzündliches Gemisch erzeugt, das ganz nach seinem eigenen Rezept gebraut ist.
Die Songs des Albums entstanden daheim und unterwegs in einem endlosen Strom, komponiert auf der Gitarre und festgehalten in schlichten Demo-Versionen auf einem transportablen Kassettendeck. Sich auf eine neue Studio-Session vorzubereiten hieß, sich durch knapp 75 Tapes durchzuarbeiten und aus ungefähr 50 Tracks ein starkes Konzentrat aus zehn auf den Punkt gebrachten und politisch brisanten Songs herauszufiltern. „Wir mussten noch einen Kassettenspieler mit Zählwerk kaufen, um die Stücke richtig ordnen zu können“, erzählt Jeffreys, der schon immer die Kompression und den etwas dilettantischen Flair von Kassetten für seine Demoaufnahmen bevorzugte. „Der Typ in dem Laden war sichtlich amüsiert, dass noch jemand ein solch antiquiertes Gerät haben wollte. Ein paar Tage später haben wir noch eins gekauft für den Fall, dass man beschließt, sie nicht mehr herzustellen.“
Der Aufnahmeprozess glich einer Ausgrabung – und „wie schon beim letzten Mal habe ich erst die Verbindungen zwischen den Songs gesehen, als das komplette Album zusammengestellt war“, erklärt Jeffreys. „Ich war schon immer ein ziemlicher Idealist und das zieht sich auch hier durch alle Songs.“ I was thinkin’ about the human race/And wishin’ we could reconcile/Live and let live is it too much to ask/Or would you rather it fall apart, singt er in dem R&B-konnotierten „Any Rain“, während „Colourblind Love“ ein aktueller Beleg dafür ist, warum die New York Times ihn einst als „die Stimme des multi-ethnischen New York“ bezeichnet hat. Der Titelsong „Truth Serum“ ist ein schleppender Blues auf den Spuren von John Lee Hooker – und zugleich ein dringlicher Appell, sich nie selbst zu belügen. „It's What I Am“ kommt musikalisch daher wie ein verschollen geglaubter Bruder von „You Can`t Always Get What You Want“ - wobei die Liebe zu den Rolling Stones bei Jeffreys schon seit jeher ausgeprägt ist und auch bei dem balladesken „Far Far Away“ aufleuchtet. Doch bei all den musikalischen Querverweisen bleiben die Songs von Garland Jeffreys immer als seine ganz eigenen zu erkennen, was auch an der gelassenen Art und Weise seiner Interpretation liegt.
Selbst bei „Collide Generations“, unüberhörbar seiner Tochter Savannah gewidmet, stimmt er ganz trocken den urbanen Rock'n`Roll von Velvet Underground an – einer der Höhepunkte des Albums, neben dem finalen „Revolution Of The Mind“, das mit karibischer Leichtigkeit zu beeindrucken weiß und dessen Botschaft lautet: Veränderung beginnt im Kopf!
Im Wesentlichen arbeitete Jeffreys für „Truth Serum“ mit demselben Kern an Musikern wie auf „The King of In Between“, darunter Steve Jordan ( Eric Clapton) und Larry Campbell ( Tom Petty ) , sowie Zev Katz, Duke Levine und Brian Mitchell. Das erklärte Ziel war es, die Unmittelbarkeit, die Intimität und die euphorische Energie der Demo-Aufnahmen auch im Studio einzufangen. So scharte sich die Band in Andy Taubs Studio Brooklyn Recordings um das Kassettendeck und verinnerlichte rein nach Gerhör die Songs, die dann zumeist in einem Schwung, in einem Live-Take mit ungeschliffenem Gesang aufgenommen wurden. Es herrschte bei diesen Sessions eine ausgesprochen lockere Stimmung; die Tür stand für jedermann offen, mit dem Ergebnis, dass einige Freunde für unerwartete Gastspiele reinschneiten. Der bekannte Songwriter James Maddock stieg neben Campbell sogar als Co-Produzent mit ein, und die Sängerin Cindy Mizelle machte bei der Ska-Reggae-Nummer „Dragons To Slay“ ebenso ihre Aufwartung wie Art Baron, der letzte Saxophonist unter der Ägide von Duke Ellington. Andy Taub verließ gar mitten in einer Aufnahme das Mischpult, um spontan am Glockenspiel in die Band einzusteigen.
Garland Jeffreys – aufgewachsen in den Außenbezirken von New York – ist von schillernder Herkunft, eine einzigartige Mischung aus Afro-Amerikaner, Puerto-Ricaner und Cherokee. Das hat ihm das Leben nicht einfacher gemacht, aber all den Vorurteilen hat er stets Klugheit und Liebe entgegengesetzt. Mit der Zeit hat er sich zu einem sozial engagierten Poeten entwickelt, dessen Blick fürs Detail und dessen immense lyrische Kraft stets Bewunderung hervorgerufen haben.
Jeffreys hat in den 1970ern und 1980ern einige hochgelobte Alben veröffentlicht – zu seinen bekanntesten Hits zählen „Wild In The Streets“ und „R.O.C.K.“ sowie „Matador“ und „Hail Hail Rock'n'Roll“. Der Künstler, der unter anderem mit John Cale und Dr. John sowie mit Stan Getz und Sonny Rollins zusammengearbeitet hat, war zudem einer der ersten US-Amerikaner, die in Kingston, Jamaika Aufnahmen machten. Die große Bekanntheit seiner Songs und deren Zeitlosigkeit spiegelt sich auch in unzähligen Coverversionen wider, wobei die Künstlerpalette von den Hardcore-Punk-Legenden Circle Jerks bis hin zur Neo-Folk-Formation Vetiver reicht.
„Ich denke, ich habe mich schon immer nach Verbrüderung, Harmonie und Gerechtigkeit gesehnt, bin gleichwohl ganz schön desillusioniert worden, wie selten das auf dieser Welt in die Tat umgesetzt wird“, konstatiert der unverbesserliche Weltverbesserer. „Diese Obsessionen, meine Wunschvorstellungen und all die Dinge, die mir viel bedeuten, habe ich in den letzten zwei Jahren auf Band festgehalten.“ Aber Garland Jeffreys ist und bleibt nicht nur als Musiker ein unermüdlicher Kämpfer für Gerechtigkeit und Menschlichkeit. Sein soziales Engagement umfasst Benefizkonzerte für die Aidshilfe, Ärzte ohne Grenzen, die Bowery Mission und zuweilen auch Musikerkollegen in Not (noch vor Obamas Gesundheitsreform). Zudem geht er regelmäßig an Schulen, um dort unter den ethnisch verschiedenen Schülern für mehr Toleranz zu werben. Nicht nur seine Texte sind ein stetes Aufbegehren gegen die Augenwischerei der politischen Kaste: Jeffreys demonstriert ganz praktisch, wie man mit gutem Beispiel vorangeht.
„Truth Serum“ sticht als eines der feinsten Alben von Garland Jeffreys hervor, weil es die Weisheit und den Blickwinkel eines Künstlers demonstriert, der sein Alter und seine Erfahrungen mit Leidenschaft und Courage zu kombinieren weiß, was ihn zu einem der wahren „Rock-and-Roll-Schätze dieser Stadt“ (The New Yorker) – und nicht nur dieser Stadt – gemacht hat.
Dieses Album ist ein dringlicher Weckruf, eine Reflexion über die Welt, in der wir leben, und die Vision einer Welt, wie wir sie uns eigentlich schuldig sind.
Die unverblümte Wahrheit eines Mannes, dessen späte Blütezeit gekommen ist.
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